Franz Schuh, *1947, Philosoph, Schriftsteller und Essayist, zuletzt erschienen »Ein Mann ohne Beschwerden« (Zsolnay)
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Was gilt im Leben absolut? Umsonst ist nur der Tod, heißt es im Wienerischen Jargon, und der kostet das Leben. Das Absolute ist die theologisch-philosophische Überhöhung dessen, was man in der irdischen Gesellschaft »das Unverhandelbare« nennen kann. Das Absolute für uns Menschen – als Einzelne und im Kollektiv – ist die Endlichkeit des Lebens, die schlichte Tatsache, dass das Leben vorübergeht.
Ein einziges Mal wurde ich in meiner auf der Hand liegenden These über das Absolute unsicher. Das war bei einem Symposion über das Werk von Elias Canetti. Da sprang Vilém Flusser auf, der 1991 verstorbene Medien-Philosoph, ein Technikfreak, und wies alles, was im Sinne Canettis über den Tod zu sagen ist, weit von sich. Je mehr, sagte Flusser, ich hier zuhöre, desto unsympathischer wird mir dieser Canetti, und er stellte in Aussicht, der Tod wäre nichts Absolutes, sondern die Menschheit würde schließlich eine technische Lösung finden, um ihn zu überwinden. Die Unsterblichkeit jenseits der Transzendenz, das nenne ich technikaffin: Unsterblich im Leben, was für eine Dr. Frankenstein-Innovation.
Meine These lautet, dass der Tod das einzig Absolute ist. Das rückt das Sterben und seine zu erreichende Würde an die Spitze der Bestenliste unserer Existenz: Wir müssen was tun, wir müssen handeln, um das Sterben, zum Beispiel im Krieg, nicht empathielos zu einer Routine, zum Alltag werden zu lassen. Wir sollten Hospize einrichten und keine Abschussrampen bauen.
Aber so ein »Wir« gibt es nicht. Irgendetwas müsste mit den Ersatzformen des Absoluten passieren, was sicher nicht passiert: Der Nationalismus, der religiöse Fundamentalismus, die Gier nach Macht, die Habgier, die (selbst-)mörderische Leidenschaftsliebe, der Hass auf den Nachbarn und so weiter – diese beliebten, scheinlebendig machenden, überwertigen Motivationen werden das Leben der Vielen (und ihrer Institutionen) ad infinitum, ausfüllen.
Dagegen berühmte Zeilen aus einem Brecht-Gedicht: »Wenn die Irrtümer verbraucht sind / Sitzt als letzter Gesellschafter / Uns das Nichts gegenüber.« Anschauungsunterricht dafür bietet eine Fernsehsendung des ORF. Sie heißt »Goldener Herbst – Legenden reden über’s Leben«. Das könnte die schlimmste mediale Formatierung sein: »Legenden«, also sogenannten Prominenten das letzte Wort »über’s Leben« zu überlassen. Es ist die totale Selbstbespiegelung des Mediums, das ja entscheidet, wer prominent ist und wer.
Wie im Leben gibt der ehemalige Operndirektor Ioan Holender gleich zu Anfang der Sendung den Ton an. »Goldener Herbst«, das sei ein schöner Titel, es könnte ja auch heißen »früher Winter« – aber, sagt Holender, »nach dem Herbst kommt noch was, nach dem Winter kommt nichts«. Das ist – nach meiner Meinung – die tröstliche, aber auch vertröstende, melancholisch-ironische Variante, den Tod durch eine Redeweise ins Leben mit einzubeziehen.
Eine andere Redeweise ist erstaunlich, sie stammt von Ernst Bloch und lautet, aus dem Gedächtnis zitiert: »Der Tod – eine Erfahrung, die ich auch noch machen möchte.« Bloch war ein Atheist, ans ewige Leben, an irgendeine Art von Leben nach dem Tod, hat er nicht geglaubt. Er hat mit der willkommenen Erfahrung schlicht das Sterben selbst gemeint, auf das er neugierig ist.
Ich glaube, diese Reaktion einer zustimmenden, einverstandenen Neugier ist die einzige Möglichkeit (auch die einzig lebensbejahende), um dem Tod seine gnadenlose Absolutheit zu nehmen. Ob das in den entscheidenden Augenblicken funktioniert – na, schau mer mal.
Quelle: Gemischter Satz, Der Newsletter der ZEIT Österreich • 47/2024